Wednesday, May 23, 2018

Dieser Koch macht selbst Plankton zum Superfood

Hätte in der oscarprämierten Unterwasser-Romanze „The Shape of Water“ statt der stummen Elisa ein Mann seine Liebe zu einem geheimnisvollen, aquatischen Wesen entdeckt, wäre Ángel León die perfekte Besetzung gewesen. Der Andalusier ist zwar kein Schauspieler, sondern Sternekoch, aber kaum jemand liebt das Meer und vor allem seine Bewohner mehr – und nur wenige seiner Kollegen erforschen selbst die unscheinbarsten Meereswesen wohl so akribisch und vorurteilsfrei wie León, der in seinem Restaurant, dem „Aponiente“, Shrimps zum Leuchten bringt und selbst aus Plankton eine Zutat macht, die Gourmets begeistert und das Potenzial hat, den Hunger in der Welt zu lindern.

Wie ein Labor muten die neuen, vor knapp zwei Jahren bezogenen Räume am Rande des Hafens von El Puerto de Santa María aber nicht an. Ein wenig fühlt man sich wie auf hoher See, wenn man über die Planken im Innenhof der im 19. Jahrhundert erbauten Mühle ins eigentliche Restaurant geht, so raffiniert locker hat León sie verlegen lassen. Innen wartet ein fein austarierter Mix aus robustem Fischkutter und elegantem Ozeandampfer mit Blick über den Río Guadalete, auf dem ein paar Dutzend alte Fischerboote schaukeln.

Dort draußen, in der Bahía de Cádiz, fühlt sich León noch immer am wohlsten. „Wenn ich morgens um sechs mit meinem Bötchen hinaustuckere und die Angel nach einem Wolfsbarsch auswerfe, finde ich mein wahres Selbst“, sagt der 50-Jährige. „All der Stress, quasi am Ende der Welt erfolgreich ein Sternerestaurant zu führen und für über siebzig Crewmitglieder verantwortlich zu sein, fällt dann von mir ab. Ich werde eins mit dem Meer und frage mich, warum der Mensch so wenig mit ihm anzufangen weiß.“

Keiner liebt das Meer mehr als er

León möchte der Welt klarmachen, wie reichhaltig und wohlschmeckend das Meer ist. Zum Glück wurde er aber kein Ökosektenprediger, sondern ein Koch mit höchsten Ansprüchen und großem Forscherdrang. Mit seiner Crew hat er einen Ort geschaffen, an dem er seine Passion leben und die Gäste an der Vielfalt des Meeres teilhaben lassen kann. Mit einem Royal vom Seeigel an Kaviar etwa, einer Barbe in Plankton-Creme, einem Tartar vom Sepia-Tintenfisch, einer Jod-Suppe mit Muscheln oder einfach mit der getrockneten, bernsteinfarben schillernden Haut einer Muräne. Für diese puristische und gleichzeitig hochkomplexe Küche, die sich in einem rund zwanzig Gänge umfassenden „Mar de Fondo“-Menü offenbart, hat ihm der „Guide Michelin“ soeben den dritten Stern verliehen.

Fleisch hat León nicht im Programm. Das berühmte iberische Schwein, das um die Ecke in der Sierra de Cádiz gedeiht, findet allenfalls als hauchdünner Schinkenstreifen zur Garnierung einer Krebsfleischcreme Verwendung. „Mit meinen Gerichten will ich das Meer erzählen“, formuliert er beinahe postmodern sein in Europa einzigartiges Konzept. „Diese Obsession, die Leute vom Reichtum des Meeres zu überzeugen, hatte ich schon als kleiner Junge.“

Als Kind trieb er sich gern bei den Fischern am Hafen herum und fuhr oft mit ihnen hinaus. Die Schule interessierte den Sohn eines Hämatologen gerade so sehr, dass es zum Abitur reichte. Da stand sein Wunsch, Koch zu werden, schon lange fest. Statt in die Fußstapfen des Vaters zu treten und Medizin zu studieren, begab er sich auf die Ochsentour durch die Häuser der französischen Spitzengastronomie und lernte sein Handwerk von der Pike auf. Zurück in der Heimat, geriet er mitten hinein in die von Köchen wie Ferran Adrià, Juan Mari Arzak und Joan Roca ausgelöste Kochrevolution, die von Norden aus gerade die Halbinsel eroberte. Auch León begann, neue – manche sagen avantgardistische – Kochtechniken zu entwickeln, und eröffnete 2007 in einer alten Hafenspelunke im Fischerviertel von El Puerto de Santa María das „Aponiente“.

Fisch, wie’s frischer nicht geht
Fisch, wie’s frischer nicht geht

Quelle: ullstein bild - EFE / J.J. GUILL

Die lokale Presse und konservative Kollegen aus der Region begriffen den Ansatz von León zunächst nicht. Erst recht nicht, als er 2009 sämtliche Fleischgerichte von der Karte strich. „Die Leute erklärten mich für verrückt. Tatsächlich war es anfangs manchmal die Hölle, das kulinarische Bewusstsein war damals selbst in Spanien noch sehr viel konservativer. Gäste kamen, warfen einen Blick auf die Karte, standen auf und gingen wieder. Wäre ich nicht so ein Sturkopf, hätte ich vielleicht aufgegeben.“

Aber dann kam wie aus heiterem Himmel der erste Michelin-Stern und seine über glühenden Olivenkernen geräucherte Sardine auf Tomatencreme, die die Essenz Andalusiens in einem ebenso schlichten wie komplex schmeckenden Gericht erfasst, war plötzlich keine banale Tapa mehr, sondern Haute Cuisine, und León kein armer Irrer, sondern der unangefochtene „Chef del Mar“. Dieser Beiname ist inzwischen sein Markenzeichen; die Sardine kann man heute noch in seinem Bistro, dem inzwischen zur „Taberna del Chef del Mar“ umfunktionierten Ur-„Aponiente“, für kleines Geld bestellen. „Ich habe damals nicht auf einen Stern spekuliert,“ sagt León. „Das Einzige, was ich wollte, war, meine Vision zu verwirklichen und meine Leute bezahlen zu können. Das kam in einer vom Werftensterben und der Finanzkrise gebeutelten Region manchmal einem Himmelfahrtskommando gleich.“

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Das Archaische und Anarchische seiner Anfangstage hat er sich trotz der Sterne-Weihen bewahrt. Hummer und Kaviar gehören heute dennoch zu seinem Menü. „Für 200 Euro wollen die Leute eben High-End-Produkte sehen. Ich kann das verstehen, aber darum geht es mir nicht. Ein hochwertiges Produkt wie einen Hummer zuzubereiten kann jeder lernen. Und einen guten Thunfisch bekommen Sie mittlerweile auch in Madrid.“ Er selbst experimentiert am liebsten mit den maritimen Mauerblümchen der Region, die oft nicht einmal einen offiziellen Namen haben, destilliert immer neue Fonds, Essenzen und Extrakte, probiert frisch gefangenen Fisch mit bloßen Händen.

„Ein bisschen ist es wie beim Liebesspiel“, beschreibt León seine bacchantische Art, neue Gerichte zu entwickeln. „Ich rieche, ich schmecke, ich beiße hinein. Das sind für mich die schönsten Momente. Aber irgendwann sage ich mir, du hast hier einen Laden mit drei Sternen, und dann unterziehen wir meine wilden Kreationen einem Zivilisationsprozess, bei dem wir aus den unterschätzen Meereswesen das Optimale herauskitzeln.“ Bei diesen Explorationen verlässt er sich aber längst nicht mehr nur auf seinen Geschmack.

Algen und Plankton? Taugen bei ihm allemal für die Haute Cuisine
Algen und Plankton? Taugen bei ihm allemal für die Haute Cuisine

Quelle: picture alliance / dpa

Schon kurz nach der Eröffnung des „Aponiente“ begann er, mit dem Meeresbiologischen Institut der Universität von Cádiz zu kooperieren. Der rege Ideenaustausch führte zu so kuriosen Erfindungen wie dem leuchtenden, weil mit Glühwürmchen-DNS gepimpten Shrimp, der eine klare Consommé illuminierte. Das brachte León jede Menge Schlagzeilen und Fernsehauftritte. Genau so war es auch gedacht, bekennt León: „Ein PR-Gag, um auf unser Restaurant hier unten in der kulinarischen Diaspora aufmerksam zu machen.“

Ernsthafter ist seine Auseinandersetzung mit natürlichen Ressourcen. „Auf eine Tonne Qualitätsfisch kommen fünf Tonnen Beifang, der oft vernichtet oder allenfalls als Tierfutter verwendet wird“, erklärt León. Um dieser Verschwendung entgegenzutreten, nahm er sich mit universitärer Hilfe praktisch jede Fischart, jeden Muscheltyp und sämtliche in der Bahía wachsenden Algen vor und untersuchte sie auf ihren Ernährungsgehalt, um optimale Zubereitungs- und Verwertungsarten herauszufinden: „Wir stellen zum Beispiel Würste aus diesen scheinbar minderwertigen Fischen her. Chorizo, Botifarra, Botillo, Würste, die jeder Spanier kennt. Wir erhalten deren Charakteristika und ‚veredeln‘ sie mit dem Aroma des Meeres.“ Als frische Amuse Gueule gibt es diese Würste im Restaurant, in einer Fischfabrik lässt León sie zudem konservieren und über ein Netz von Feinschmeckerläden vertreiben.

Das Einzige, was ich wollte, war, meine Vision zu verwirklichen und meine Leute bezahlen zu können
Ángel León, Sternekoch

Den größten Coup aber landete er mit seiner Entdeckung der „Essenz des Meeres“, wie er sie nennt. Ein Mix aus Zufall, Neugier und Einbildungskraft führte ihn vor knapp zehn Jahren in die kleine, nur wenige Hundert Meter von seinem Restaurant gelegene Planktonmanufaktur von Carlos Unamunzaga und Lalia Mantecon. Die Meeresbiologen hatten an der Universität Cádiz einen Weg gefunden, pflanzliches Plankton anzubauen und zu einem Pulver zu verarbeiten, das sie als Fischfutter an die damals überall entstehenden Aquakulturen verkauften. Ob er mal probieren dürfe, fragte León die Wissenschaftler. Entgeistert sahen die beiden zu, wie er die Hand in den Container steckte und das Fischfutter von den Fingern schleckte. León war begeistert und überzeugte das Paar, das sattgrüne Pulver als Lebensmittel zu vermarkten.

Sieben Jahre dauerte das EU-Genehmigungsverfahren, aber seit 2015 produzieren die auf der Fläche von zwei Fußballfeldern verlaufenden transparenten Kunststoffröhren mit nichts als Meerwasser und Sonne etwa drei Tonnen Plancton-Marino-Pulver pro Jahr. Zwar geht der Großteil nach wie vor in die Fischzucht, aber dank des werbewirksamen Gütesiegels von Ángel León ist es als natürlicher Geschmacksverstärker aus spanischen Küchen nicht mehr wegzudenken. León selbst bereitet daraus ein intensiv duftendes Meeresfrüchte-Risotto zu oder injiziert die Essenz Krusten- und Schalentieren.

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Für das Trio ist das aber nur der Anfang. León ist überzeugt, mit Plancton Marino, das extrem viele Mineralien und Vitamine enthält, einen Beitrag zur Bekämpfung des Welthungers und der damit einhergehenden Mangelerscheinungen leisten zu können. Schließlich ist Plankton quasi der Ursprung des Lebens schlechthin und der Einzeller Nummer eins, dessen Fotosynthese wir 50 Prozent unseres Sauerstoffs verdanken. Analysen zeigen, dass bereits ein Viertelgramm täglich den menschlichen Bedarf an Mineralien und Vitaminen deckt, zu denen große Teile der Weltbevölkerung keinen Zugang haben.

Sollte es irgendwann gelingen, nicht nur Spanien, sondern die ganze Welt von diesem Powerfood zu überzeugen, sieht León sich der Verwirklichung seiner Vision vom sanft, aber effizient genutzten Meer einen Schritt näher: „Ich werde nie verstehen, weshalb der Mensch Raubbau an der Festlandnatur betreibt, den Welthunger trotzdem nicht in den Griff bekommt, aber die Ressourcen des Meeres noch nicht einmal ansatzweise nutzt. Alles was wir tun, ist, seine Lebewesen auszurotten. Dabei könnte das Meer, intelligent genutzt, alle Ernährungsprobleme der Menschheit lösen.“

In der 1815 erbauten, weitläufigen Mühle, die das „Aponiente“ beherbergt, tischt Sternekoch Ángel León seinen Gästen neben dem „Mar de Fondo“-Menü auch das „Menú Mar en Calma“ mit Austern, Leber vom Fisch und natürlich einer seiner berühmten Plankton-Kreationen auf. 50 Gäste finden hier Platz; für den passenden Wein sorgt der mehrfach ausgezeichnete Sommelier Juan Ruiz-Henestrosa.

Zu finden: Aponiente, C/Francisco Cossi Ochoa, 11500 El Puerto de Santa María, Cádiz, aponiente.com.

Algen und Küstengemüse: Das Kochbuch Gebundene Ausgabe – 25. April 2017 von Otto Koch (Autor), Michael Schubaur (Autor) Gebundene Ausgabe: 256 Seiten Verlag: Matthaes Verlag; Auflage: 1 (25. April 2017) Sprache: Deutsch ISBN-10: 3875154185 ISBN-13: 978-3875154184 Größe und/oder Gewicht: 24,5 x 2,7 x 29,7 cm

Quelle: Matthaes

Ein Buch über die Vielfalt der Küstengewässer und ihr kulinarisches Potenzial hat der ehemalige Sternekoch Otto Koch geschrieben. In „Algen und Küstengemüse“ (Matthaes, 74,90 Euro) klärt Koch gemeinsam mit seinem Co-Autor Michael Schubaur über viel zu oft übersehene Unterwasser-Schätze auf.

Koch und Schubaur präsentieren Algenarten von der in China beliebten Kombu über die herbe, von den Koreanern bevorzugte Wakame bis hin zur Nori, mit der die Japaner ihr Sushi einwickeln. Aus diesen Zutaten entwickeln Koch und Schubaur 80 überraschende Rezepte für Profis und Hobbyköche.

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Baca Di sini Bro https://www.welt.de/icon/essen-und-trinken/article176575395/Angel-Leon-Dieser-Koch-macht-selbst-Plankton-zum-Superfood.html

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